21. Nov. 2009 – 02. Jan. 2010
Zentrum der Installation ZERO-FOLD ist eine Leerstelle: Auf dem Fehldruck eines Bayern-Einsers – eine der ersten Briefmarken, die zwischen 1849 und 1851 verlegt wurde – ist durch eine versehentliche Faltung eine kleine unbedruckte Linie im Bild frei geblieben. Von diesem winzigen undefinierten Null-Fach aus, entwickelt Andreas Gehlen mit wenigen gestalterischen Eckdaten einen komplexen Kosmos im Ausstellungsraum, dessen unregelmäßiger Grundriss analog darauf schließen lässt, dass er ehemals ein nicht näher zweckbestimmter Freiraum zwischen zwei Gebäuden gewesen ist.
Die Präsentation der Marke in einer Glasvitrine auf einem rundum verspiegelten Sockel hebt ihre Kostbarkeit hervor, und lässt sie gleichzeitig als Objekt im Raum je nach Blickwinkel vollkommen verschwinden. Der Fehler auf der Marke, gekrümmt verlaufend wie der Fingerzeig des Schöpfers auf Michelangelos „Erschaffung Adams“ in der Sixtinischen Kapelle, ist Nische, Falz, Schoß, ein Ursprungsort, den Künstler und Betrachter gedanklich in kindlicher Manier besetzen können, um von dort aus den Raum neu zu bestimmen.
Gilles Deleuze definiert in seiner Abhandlung „Die Falte“ den Barock als Entwicklung von der Kunst der Struktur, für die die Renaissance steht, zur Kunst der Textur.1 Reliefartige und plastische Elemente lösen die strukturale Fixierheit der Zentralperspektive auf und erlauben mehrere Wahrnehmungsebenen. Die Falte, als Übergang zwischen der zweidimensionalen Fläche in ein dreidimensionales Gebilde, das sich in den Raum stülpt, ist Grundeinheit plastischer Formengenerierung, und begegnet als Ergebnis von Transformation in den wissenschaftlichen Modellen von Mathematik, Physik, Geologie, Katastrophentheorie, der Errechnung digitaler Räume.
Die Falte ist der Vermittlungsträger zwischen Malerei und Relief: Richard Serra listet als drittes Verb seiner „Verb-List“ plastischen Handelns das Wort „to fold“ auf, Jacques Derrida fahndet nach dem französischen Wort „pli“ in Vokabeln lateinischen Ursprungs: Applikation.2
Die assoziativen Korrespondenzen und formalen Analogien innerhalb des Flyers wie im Ausstellungsraum behandeln die Grundentscheidungen erster bildhauerischer Setzungen. Ähnlich wie das „Nullfach“ im Roulette, dessen Bespielung neue Möglichkeiten ins Spiel bringt, umreißt die Installation ZERO-FOLD im Vitrinenobjekt, den Neonplastiken, dem auf die Wand montierten Cut-Out einer Pflanzen-Zeichnung und den Skalen und Piktogrammen auf Found Footage-Material ein Bedeutungsspektrum, das Entfaltung und Kontrolle, Ordnung und Chaos, Wachstum und Antiform thematisiert.
Die Faltungen von Stützen und Dach des “Solarpanels” aus dem “Parc Diagonal Mar” am Hafen von Barcelona umschreiben eine Leerstelle. Bewässert die Archäologin auf der Fotografie aus den 70erJahren die Fundstätte einer Feuerstelle aus dem Neolithikum oder zähmt eine Hohepriesterin in Heldenpose den schwer kontrollierbaren Gestaltwillen in einer Brutstätte unbekannter Urkräfte?
Zwei gegenläufige Bewegungen dynamisieren die Wand-Applikation im Ausstellungsraum: Der wie eine Briefmarke mit Leim fixierte Cut-Out eines heraus gerupften Kaktus treibt, einer Granate gleich, nach oben – Erhebung himmelwärts, gekrönt von einer Dreifaltigkeitsgruppe. Die in der Broschüre erscheinenden Piktogramme eines einfachen und zweifachen Null-Faches, Abbildungen aus einer mathematischen Abhandlung von Bernhard Riemann über die Entstehung dreidimensionaler Körper aus 1871, rutschen dagegen die Wand hinab und lösen sich am Boden zur Antiform auf: scheinbar abgerissen, lediglich ein kurzes wurmförmiges Stück hinterlassend, das wiederum Wurzel für eine neue Formbildung werden kann.
Eingerollte Lose mit Nietentrostsprüchen, in den beiden Farben der Folgedrucke der Ein-Kreuzer-Briefmarke, zitieren ironisch barockes Rollwerk, korrespondieren mit den Kaktusstacheln, die sich vor Jahrmillionen aus einem eingerollten Blatt gebildet haben.
Das sichtbare Äußere jeder Falte, Rolle birgt ein unsichtbares Inneres und immer wieder: die Option.
1 Gilles Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock, Suhrkamp Frankfurt 2000
2 Dr. Antje von Graevenitz: Energie, Elegie und Event der Falte, Ausstellungskatalog Kaiser Wilhelm Museum „Der große Wurf, Faltungen in der Gegenwartskunst“, Krefeld 2008