04. Sept. – 23. Okt. 2010
Eröffnung: Freitag, 03. Sept., 19 Uhr
Die Erde, dieser ein wenig, dank tatkräftiger Unterstützung einiger seiner Bewohner, aus dem Tritt geratene Planet, ist gemeint, bildet sie doch nach Merkur und Venus das dritte Gestirn im gravitativen System der Sonne. Der Titel der Ausstellung von Patrick Rieve stellt demnach unmissverständlich klar, dass es ihm diesmal um das Große Ganze geht. Bei der Betrachtung seiner Tuschezeichnungen wird jedoch deutlich, dass die Bezugsgröße für den Blick auf kosmische Zusammenhänge auch hier das unhintergehbare eigene Ich ist, selbst wenn, oder gerade weil wir, nach Rilke, nicht sehr verlässlich zu Hause sind in der gedeuteten Welt. Damit reiht sich die Präsentation ein in die vom Künstler seit längerem verfolgte Neugierdisziplin einer Kartographie der Icherkundung, gilt es doch mit der zeichnenden Hand Räume zu schaffen, die das Subjekt als Erweiterung seines eigenen Körpers verstehen kann. Die in schwarz-weiß gehaltenen Arbeiten im Outfit eines Comic Panels geben teilweise lesbare Sequenzen oder Abfolgen wieder und können als Instrumente zur Befragung einer raum-zeitlichen Verortung angesehen werden. Die Zeichnungen vermitteln, bei stetigem Perspektivwechsel, Zugänge zur Welt, ohne deren Präsenz vorzutäuschen.
Mit einem Selbstporträt auf dem Kopf im eigenen Zimmer hebt die Folge an, widmet sich dem wandernden Schatten an der Hinterhofmauer und führt zu visuellen Reflektionen über die unterschiedlichen kulturellen Bedingtheiten der Wirklichkeitsaneignung. Unter Umgehung einer abzuweisenden Plausibilitätskontrolle unternimmt es Rieve, die Unschärferelation der menschlichen Regungen zu andersartigen Größen, Weiten und Bewegungen ahnbar zu machen. Der Künstler ist dabei Spezialist in einem Bereich, den er selber definiert. Dieser Bereich ist eine Mischung aus Objektivität, Irrationalität und Subjektivität. Jeder geschlossene Raum ist ein Sarg, wie wir hinlänglich und einprägsam wissen, und da Patrick Rieve schließlich einen Weltbezug globalen Ausmaßes thematisiert und den Fokus auf unendlich gestellt hat, kann es nicht verwundern, dass er mit seiner Ausstellung die Verhältnisse des Galerieinnenraums nicht als Begrenzung akzeptiert und in den unmittelbaren Außenraum hinein interveniert. So wird die Werbefläche eines nahe gelegenen Stromkastens mit einer Plakatfolge ausstaffiert, die eine nur noch über das Medium des Bildes vermittelbare Ansicht des Sonnensystems zeigt. Hier wird demnach bei einer übermenschlichen Sicht Kredit genommen, die das Unverfügbare in den Blick nimmt und einen Standpunkt außerhalb der Zeit beansprucht. Die altehrwürdige Disziplin der Metaphysik, von ihren Begründern längstens verabschiedet und auf den Index gesetzt, scheint im Märchen, im Traum und anderen zeitenthebenden Metiers, wie dem Hollywoodkino oder eben dem Comic dankenswerter Weise Unterschlupf gefunden zu haben, sind ihre unbeantwortbaren Fragen doch nach wie vor für unser Dasein konstitutiv. Der Lichtkegel unserer Erkenntnis beleuchtet eben nicht sämtliche Bereiche unserer Erfahrung, scheint denn auch die Wirklichkeit überhaupt nur in Widersprüchen fassbar zu sein. An dieser Stelle setzt Patrick Rieve an, birgt doch die Linie selbst schon den Begriff der ‚Unendlichkeit’ in sich und ist eng mit der Bewegung verbunden, weil das Ziehen einer Linie die Folge einer Bewegung ist. Die Zeichnung kann daher als adäquates Medium angesehen werden, um Zeitverläufe und ihre Brüche zu visualisieren.
Patrick Rieve zählt zu einem wachsenden Kreis junger Künstler, die die konventionell erscheinende Zeichnung zum idealen Virenprogramm in einer zunehmend auf technologische Codes setzenden Gesellschaft entwickelt hat. Mit seinen Bildfindungen, bei denen sich die Biographie des Ortes mit einer Geographie des Selbst kreuzt, bleibt der Künstler auf Tuchfühlung mit der unergründlichen Oberfläche namens Welt. Hinter der Anschmiegung an Vorhandenes und Bekanntes setzt eine präzise Bildformung ein, deren Spiel mit der Wirklichkeit weder einfache Wiederholung noch eindeutiger Kommentar ist. Strukturelle, sowie auch ganz subjektive Ebenen werden dabei sichtbar und entfalten ihre je eigene Dynamik. Dienen Bilder gemeinhin dazu, den Abgrund zwischen Mensch und Welt zu überbrücken, so kommt den Bildern von Patrick Rieve weit eher die Aufgabe zu, unter der Tarnkappe des Gewöhnlichen diesen Abgrund als in unserer Alltagswirklichkeit verankert aufscheinen zu lassen. Zeichnend führt der Künstler einen Dialog, eine Befragung, mit sich, der Welt und den Dingen in ihr. Vielleicht sehen wir jetzt besser, wie menschliche Bewußtseine arbeiten, wie sie ständig driften, verketten, wie sie ein Murmeln von Texten und Subtexten in sich erzeugen.
Harald Uhr